„Es braucht auf jeden Fall glückliche Beine“

Andrea Koschier (49) war das Aushängeschild des österreichischen Radsports. Nationale Meisterin 1992, 2000 und 2001, Profi im italienischen Lucca und bei Nürnberger, der damals erfolgreichsten deutschen Damenequipe. Seit dem Ende ihrer Karriere arbeitet sie als selbständige Psychologin. Immer noch sitzt sie regelmäßig auf dem Rennrad und verfolgt mit scharfsinniger Analyse intensiv die Entwicklung des Radsports. Bei der Rad-WM 2018 in Innsbruck moderierte sie für den Österreichischen Rundfunk die Damenrennen. Wir sprechen mit Andrea Koschier über männliche Traditionen im Radsport, über die Eitelkeit von Mario Cipollini, über persönliche Zwänge und Gefängnisse und, dass die Straße den Menschen gehören soll.

Thomas Pupp: Andrea, wie hat sich für denn für dich der Radsport in den letzten Jahren entwickelt?

Andrea Koschier: Ich nehme wahr, dass es immer mehr Menschen auf die Rennräder zieht. Egal. ob es jetzt ein klassisches Rennrad ist oder ein Gravelbike. Gerade während der Corona Pandemie konnte man das schön beobachten. Wenn sich der Radsport entwickeln und halten will, muss er viel breiter und diverser werden. Er muss ein Sommer- und Wintersport sein, für dicke und dünne Menschen, für Behinderte und Nichtbehinderte, für Männer und für Frauen. Im Männerradsport ist die Fokussierung auf die Tour de France sehr gefährlich. Sollte die Tour nicht stattfinden, dann sind alle pleite. Es kann doch nicht sein, dass ein ganzes System von einem Rennen abhängt. Also muss sich der Radsport breiter aufstellen. Wir müssen die Straße teilen. Das ist die einzige Chance.

„Der Radsport muss viel breiter und diverser werden.“

Zuschreibungen wie „das härteste Rennen, die schwerste Rundfahrt, die brutalste WM“ beziehen sich immer auf die Eliterennen der Männer. Der Frauenradsport und auch die Nachwuchsklassen werden bei diesen Betrachtungen außen vorgelassen.

Genau. Nehmen wir die WM in Innsbruck. Da hat es geheißen, das Männerrennen ist das härteste Rennen, so viele Runden und dann auch noch über die Höll. Ich sage aber, das Rennen der Laura Stigger bei den Juniorinnen war das aller schwerste Rennen.

Warum?

Es geht nicht darum, dass man über die Höll kommt. Jeder kommt über die Höll, der trainiert. Es geht auch nicht darum, diese Strecken zu bewältigen. Jede Frau kann das, auch alle Tour de France-Etappen fahren. Es geht vielmehr darum, ein Rennen auf der Strecke zu gestalten. Laura Stigger und die Juniorinnen haben sich nicht gekannt. Die haben nicht gewusst, gegen wen sie Rennen fahren. Die männlichen Profis kennen sich seit Jahren in- und auswendig. Eine Juniorin kennt nicht einmal ihren eigenen Körper so gut. Dann haben die Juniorinnen nur eine Runde gehabt, also nur eine Chance, das Rennen zu gewinnen. Das ist viel schwerer, als wenn ich mir das Rennen lang anschauen und mit Teamkollegen sprechen kann, mich und die Gegner auswendig kenne. Und es geht ja nicht darum, ob man 260 Kilometer am Rad sitzt, das kann ja nicht das Kriterium sein.

Ist der Straßenradsport in seinen Traditionen, in seinem Konservativismus und in seinen Strukturen gefangen?

Beim Mountainbike fahren alle Gruppen den gleichen Kurs. Ohne Diskussion. Dieses Ganze „Helden der Landstraße“ oder die „Härtesten der Harten“ soll ja nur die Pfründe des Männersports markieren. Wenn jetzt auch eine Frau beispielsweise auf den Tourmalet fahren kann, dann haben sie ein Imageproblem, dann kann ja dieser Berg nichts wert sein. Also machen wir es besser nicht. Das Gleiche passiert ja in Kitzbühel mit Skifahren. Da darf ja auch keine Frau die Streif runterfahren. Aber, viele Tour-de-France-Sieger, viele Weltmeister, haben zuhause eine Radfahrerin als Ehefrau sitzen. Also ich verstehe nicht, gegen wen sie da ankämpfen. Die Windmühlen, gegen die die ASO kämpft, die gibt es nicht.

„Wie schafft sie es mit den Pinkelpausen, wenn sie 6 Stunden im Auto sitzt.“

Das WorldTour Team Israel Startup Cycling hat jetzt mit Cherie Pridham, einer ehemaligen britischen Radsportlerin, erstmals eine Frau als Director Sportive. Gute PR oder mehr?

Aus meiner Sicht ist es ja völlig egal, ob da jetzt eine Frau oder ein Mann im Auto sitzt. Das ist ja uninteressant. Die Frage ist, versteht der Mensch etwas vom Rad fahren. Was mich interessieren würde, wie schafft sie es mit den Pinkelpausen, wenn sie 6 Stunden im Auto sitzt (lacht).

Andrea, eine Besonderheit unseres Podcasts ist, dass unsere Gäste uns immer mit ihren drei Lieblingstiteln beglücken. Welches erste Lied dürfen wir von dir hören?

Alice mit „Per Elisa“. Aus dem Jahre 1981. Das Lied erinnert mich an meine Zeit in Italien, wunderschöne Landschaften, Gerüche und es macht gute Laune. Auch die Stimme von Alice ist ein Wahnsinn, ich sehe direkt die Marianne Vos vor mir, wie sie im Rennen das Lied singt.

Marianne Vos singt im Rennen?

Ja, man sieht es im Fernsehen.

Aber hören tut man das nicht.

Man hört viel nicht im Fernsehen. Das Fluchen, die Schreie, und man hört die Stürze nicht.

Das Lied erinnert dich an deine Zeit in Italien, wo du Profi gewesen bist. Du hast in Lucca gelebt und trainiert, dem Heimatort von Mario Cippolini.

Mario Cipollini war ja ganz ein großer Sprinter, ein Superstar und ein Showman. Er hat in Lucca gelebt. Ich habe ihn einmal getroffen bei der WM in Verona, 2004. Ich bin mit zwei Radfahrern dort gestanden und wir alle haben den Mario Cipollini nicht erkannt. Weil er so schmal war. Er wirkte aber im Feld immer so groß, weil die anderen noch viel, viel dünner sind. In Lucca hat es diese eine Ausfahrtsstraße gegeben, da ist er immer hinaus gefahren und hat sich in der Spiegelung jedes Schaufensters bewundert. Er ist ja irrsinnig eitel. Er hat immer jeden aufgehalten und wollte mit jedem einen Kaffee trinken gehen. Und er hat gequatscht mit dir, Ende nie.

War Mario Cipollini wichtig für den Rennradsport? Glamour, Hollywood?

Ja, das war die damalige Zeit. Das geht jetzt aber auch so nicht mehr.

„Ich bin ein Fan von Mathieu van der Poel.“

Warum? Fehlen diese Typen nicht im Radsport?

Ich bin jetzt fast glücklicher mit den Typen, die wir jetzt haben. Ich mag den Mathieu van der Poel sehr gern, fahrerisch und menschlich. Ich kenne ihn nicht persönlich, aber was er so ausstrahlt, wie er so lebt und was man so mitbekommt, das ist etwas, was dem Radsport irrsinnig gut tut. Auch dieses weg von „ich gewinne die Tour de France“. Der macht, was ihm Spaß macht. Sein Papa meint ja, dem Mathieu kann man nichts sagen, der tut, was er will. Und so fährt er auch seine Rennen. Das macht den Radsport interessant. Gerade bei Tirreno-Adriatico 2021 hat man es gesehen. Der fährt nach Gefühl, Lust und Laune und wenn es in die Hose geht, geht‘s richtig in die Hose. Aber das wollen wir ja im Fernsehen sehen.

Was gefällt Dir noch an van der Poel?

Vor allem aber denke ich, dass er sehr gut beraten ist, dass er ein sehr gutes Umfeld hat und dass er auch sehr gut überlegt, was er tut. Wenn er jetzt Lust hat zum Mountainbiken, dann sagt er, danke Rennrad, das war‘s, ich gehe Mountainbiken. Und wenn er im Winter Crossfahren will, dann geht er wieder Crossfahren. Das ist eine Freiheit, die er sich erarbeitet hat und das würde ich jedem Rennfahrer wünschen.

„Wenn es in die Hose geht, geht‘s richtig in die Hose. Aber das wollen wir ja im Fernsehen sehen.“

Werden diese Freiheiten kleiner oder größer oder stehen sie nur jenen zu, die mit überragenden Leistungen auch entsprechende Erfolge einfahren? Und sind die anderen eher gefangen in einem System von Training, Teamvorgaben, Sponsoren und den Rennen, die sie fahren müssen?

Vermutlich beides. Aber wenn man allein das eigene Gefängnis, das man sich macht, wegbringt, dann ist schon viel an Gefängnis weg. Denn die äußeren Gegebenheiten, wie Sponsoren, Teamchefs, Medien und auch die Eltern, sind ja nochmals eine zusätzliche Belastung. Wenn ich mich also nur um dieses eigene Gefängnis kümmern muss, habe ich schon genug zu tun. Was denke ich, was habe ich zu tun.

„Der Papa sagt, bitte gewinne das Rennen oder schau, dass du bester Österreicher wirst, was ganz typisch österreichisch.“

Wie dürfen wir das verstehen, mit den persönlichen Gefängnissen? Und wie wichtig sind denn die Psyche und der seelische Gesamtzustand für den Radsportler, für den Athleten?

Das bekommt man so nicht mit. Wenn man aber hinten im Fahrerlager ist, dann sieht man schon die psychischen Tragödien, die sich da auch abspielen. Und da geht es nicht um die Wattzahlen. Wenn es mir psychisch schlecht geht, dann das spüre ich das auch körperlich. Das Psychische zeigt uns, wie es uns geht. Ich habe eine Fahrerin gekannt, die ist von Ambivalenzen zerrissen gewesen und hat sich eigentlich selber boykottiert in ihrem Leistungsvermögen. Sie hat gewusst, dass sie im Radsport nicht dorthin kann, wo sie eigentlich hin will. Sie war sich selber die größte Gegnerin. So jemanden kann man von außen nicht motivieren. Da muss man zuerst mit diesen Ambivalenzen arbeiten. Oder die Fahrer haben ganz starke Loyalitäten. Der Papa sagt, bitte gewinne das Rennen oder schau, dass du bester Österreicher wirst, was ganz typisch österreichisch ist. Die Fahrer sind loyal den Eltern gegenüber. Da kann der sportliche Leiter machen was er mag, die Loyalität liegt beim Papa. Da muss man einmal hinschauen und darüber muss man einmal sprechen, auch dieses Feld aufmachen und dann dem Ganzen Zeit geben. Das ist der Prozess.

Lass uns an dieser Stelle die nächste kleine Musikpause machen.

Ja, gut. Wir hören jetzt Willy DeVille mit „Still (I love you still)“. Du kannst die Beste sein, es werden trotzdem 9 von 10 Rennen in die Hose gehen. Wenn ich die schnellste 100-Meter-Sprinterin bin, dann werde ich wohl alle Rennen gewinnen. Im Radsport braucht es viel mehr, um zu gewinnen. Du sitzt also ganz oft im Bus, die Tränen rinnen, es wird gebrüllt und man wünscht sich eigentlich nur mehr nach Hause. In solch einer Situation würde ich so ein Lied wählen.

 .Das musst du erst einmal im Kopf aushalten, sich wirklich für andere aufopfern.“

Wie soll man mit diesen Ambivalenzen und Loyalitäten umgehen, aus der Sicht eines Teams, des jungen Athleten. Und wie kann ich erkennen, dass ich solchen Abhängigkeiten unterworfen bin?

Die Fahrer müssen überhaupt einmal wissen, was in ihrem Kopf vorgeht. Die spüren vielleicht ein „Krampfl“ im Bauch und dann ist das für sie schon erledigt. Die wissen ja gar nicht, was das Wort Loyalität in diesem Zusammenhang bedeutet. Für diesen Prozess müsste man die Sportler öffnen, damit sie mit ihren Abhängigkeiten herauskommen, wie, ich muss es meinem Papa recht machen, ich soll es aber auch dem sportlichen Leiter recht machen, der Papa will, dass ich das Rennen gewinne, der sportliche Leiter will, dass ich mich die ersten 30 km auskotze, dann abreiße, als 170er ins Ziel fahre und so meinen Job machen. Die Anna van der Breggen, die jetzt mehrfache Weltmeisterin ist, hat sich bei zwei Weltmeisterschaften für die Marianne Vos aufgeopfert und die ist dann nicht ins Ziel gekommen. Das musst du erst einmal im Kopf aushalten, sich wirklich für andere aufopfern.

Hast du ein schönes Beispiel?

Es fehlt halt auch das Wissen über den Radsport. Wie beim Fußball nicht jeder die Tore schießen kann, so gibt es im Rennen halt auch nur einen, der als Erster über die Ziellinie fährt. Aber ein Team gewinnt immer gemeinsam. Es gibt ein wunderschönes Bild von den Europameisterschaften in Glasgow, das war 2018, da hat die Italienerin Marta Bastianelli gewonnen. Sie fährt durchs Ziel und hinten gehen vier blaue Arme in die Höhe. Das ist Radsport, das will ich sehen, da bekomme ich Gänsehaut. Ich will nicht, dass es darum geht, wer beispielweise 27er oder bester Österreicher wird. Das müssen die Eltern verstehen.

Was kann man da machen? Und gibt es Länder, die das besser verstanden haben?

Ja, natürlich. Also in Holland ist es undenkbar, dass das nicht an einem Strang gezogen wird. Die wissen genau, dass die Van der Breggen und die Van Vleuten sich nicht lieben, die werden sich auch nicht mehr heiraten, die Zwei. Aber die wissen, wenn EM ist wir ziehen das Oranjetrikot an, dann ist Oranje und Italien weiß, blaues Trikot, da geht kein Blatt zwischen uns.

Aber was müsste man machen?

Zum Beispiel Elternschule! Wir gehen auf ein Fußballfeld, bei einem Nachwuchsturnier, filmen die Eltern und machen dann genau das Gegenteil.

Ich kann mich auch daran erinnern, als mein Sohn Fußball gespielt hat. Zum Fremdschämen, vor allem die Väter.

Ja, das ist nicht kindgerecht. Und es sind meistens die Väter. Aber auch im Radsport täte Entwicklungshilfe Not. Vor allem in Österreich.

 „Vielleicht müsste man wirklich die Medaillen und jegliche Auszeichnungen und Anerkennungen dem Team geben. Denn es ist immer Teamarbeit.“

Ja, viele erkennen im Radsport nicht die große Bedeutung des Teams und die Aufgaben der einzelnen Fahrer in einem Rennen. In den Nachwuchsklassen muss man den Eltern, wiederum meistens den Vätern, erklären, warum ihr Kind ein großes Rennen gefahren ist, obwohl er im Ergebnis weit hinten aufscheint.

Das ist ja völlig irrelevant, welche Platzierung das Kind hat, es muss ja nicht einmal ins Ziel fahren. Bei den Bergetappen beginnt ja die Kletterei schon 20 Kilometer vor dem Berg. Da fängt die Rauferei um die Positionen an. Wie bringe ich denjenigen oder diejenige, die dann gewinnen soll, in eine gute Position, um überhaupt mitfahren zu können. Das ist eine große Aufgabe, 20 Kilometer im Wind zu fahren und die Person vor dem Anstieg dort abzuliefern. Ich habe das oft erlebt, dass dann die, die abgeliefert wird, der anderen hinten auf den Rücken klopft, danke. Die fährt weg, kotzt, steigt aus und das ist es gewesen. Das ist die Aufgabe. Und diese Fahrerin muss nicht mehr ins Ziel fahren. So müsste man das sehen und vielleicht müsste man wirklich die Medaillen und jegliche Auszeichnungen und Anerkennungen dem Team geben. Denn es ist immer Teamarbeit. Es gewinnt niemand den Sprint ganz ohne Team. Es muss eine Trinkflasche geholt werden, es muss eine Lücke zugefahren werden, es müssen taktische Entscheidungen getroffen werden, es müssen andere Attacken mitgegangen werden. Aber das ist auch eine Riesenbürde, zu wissen, das ganze Team fährt jetzt diese vielen, vielen Stunden für dich, opfert sich und ist nur darauf abgestellt, dass du in den letzten 100 Metern keinen Fehler machst. Das ist nicht nur super. Als Anfahrerin hast du es da etwas einfacher, Ellbogen raus, Kopf runter, treten und die Kollegin abliefern, da hast du weniger Verantwortung. Deshalb bleiben viele auch gerne in der zweiten Position. Das ist wie im Management, ganz oben ist die Luft dünner.

Wie ist es dir damit gegangen im Umgang mit dieser Verantwortung?

Ich habe beides gern mögen. Aber ich bin lieber gesprintet, wenn ich gewusst habe, niemand hat etwas für mich getan. Da habe ich die totale Freiheit gehabt. Wenn es gut geht, geht es gut, wenn es schlecht geht, ist es auch egal. Ansonsten, wenn wirklich viel Druck da war, dann war ich lieber die Anfahrerin und dann bin ich auch noch besser gefahren. Also ich war besser, wenn ich es für jemanden anderen gemacht habe.

„Wenn ich ein Problem zu lösen habe, dann setze ich mich aufs Rad.“

Wie kannst du deine Erfahrungen aus dem Radsport in deinen Beruf als Psychologin einfließen lassen?

Es gibt mehrere Ebenen. Zum einen bin ich nicht die Psychologin, die Montag bis Freitag von 8.00 Uhr bis 17.00 Uhr in der Praxis sitzt, sondern ich bemühe mich immer, einen Tag freizuhalten, nicht nur, um meinen Kopf freizubekommen, sondern um Sport zu machen. An diesem freien Tag passiert für mich ganz viel an Lösungen, wo ich in den Stunden vorher in der Praxis Probleme gesehen habe. Das heißt, wenn ich ein Problem zu lösen habe, dann setze ich mich aufs Rad und dann kommt die Lösung. Auch weil das Rad fahren, ähnlich wie Langlaufen oder Laufen oder Schwimmen, die gleichgeschalteten Körperbewegungen links-rechts aktiviert. So passieren Lösungen, ohne sich das Gehirn zu zermartern. Ich fahre also mit Problemen los und komme mit Lösungen heim.

Wie stark arbeitest du dabei mit Bildern?

Sehr. Menschen sprechen immer in Bildern. „Es ist mir ein Stein vom Herzen gefallen“, „ich habe Schmetterlinge im Bauch“, das sind alles Bilder und viele drehen sich auch um Bewegung. „Ich komme nicht voran“, „ich stecke irgendwo fest“. Und da helfen Bilder aus dem Radsport mit ihren schönen Metaphern. Man kann das Leben als Tour de France betrachten oder man kann Schlaglöcher sehen, die man findet, wenn man genau hinschaut.

Kannst du uns ein Beispiel nennen?

Vielleicht eine Geschichte. Da war einmal eine junge Frau bei mir. Sie ist sehr gepiesackt worden vom Leben und sie ist aber auch gern mit dem Rennrad gefahren. Diese Frau hat dann für sich beschlossen, alle ihre Probleme auf ihre persönliche Tour de France mitzunehmen. Jeden Tag, jede Etappe, hat sie sich ein Problem vorgenommen. Mit dem Ziel, am Tourmalet mit ihrer piesackenden Arbeitskollegin fertig zu sein. Und weißt du was, sie war schon viel früher mit diesem Prozess fertig und hat die Fahrt zum Tourmalet nur mehr genossen. Sie ist dann in der Folge tatsächlich auch viel mehr am Rad gesessen und diese beiden Aktivitäten, das Nachdenken und das Bewegen und dabei dem Körper etwas Gutes tun, war ihr Lösung. Deswegen kann ich auch nicht sagen, dass Radsport etwas anderes sei als Psychologie. Für mich ist es das Gleiche. Die Psyche ist ja auch nicht im luftleeren Raum. Sie hat ein Nervensystem, das auf einer bestimmten Basis funktioniert. Und wenn das Nervensystem außer Rand und Band ist, dann kann ich nicht denken, dann bin ich nur in Panik.

Ist es egal, auf welchem Rad ich unterwegs bin um vernünftige Lösungen für meine Alltagsprobleme zu finden?

Also ich würde jetzt eine Downhill-Mountainbikestrecke nicht empfehlen. Das ist dann ganz etwas anderes. Auch wenn ich Tennis spiele, ist das eine ganz andere Fokussierung. Da bin ich dann ganz weg. Da denke ich dann gar nichts. Wenn ich aber Zeit habe und am Rad unterwegs bin, dann können solche Ideen kommen.

Also, um in diesen Flow hineinzukommen?

Genau, es ist als Flow beschrieben in der Psychologie.

Hat für dich das Radfahren auch eine meditative Ebene?

Für mich ist es überlebensnotwendig. Ohne Radfahren, kann ich gleich mit meiner Arbeit aufhören. Ich kann nicht unfit und unausgelastet und ohne Endorphine dasitzen, das geht nicht. Es geht um den Rhythmus im Körper und wenn ein richtiger Rhythmus da ist, dann passiert etwas. Das muss jeder für sich finden. Ich kann aber auch nicht zu den Menschen sagen, Leute geht‘s jetzt alle Radfahren, weil dann sind alle eure Probleme gelöst. So einfach ist es ja nicht.

„Es braucht jedenfalls glückliche Beine.“

Lass uns noch einen Musiktitel spielen.

Man fährt ja im Training sehr viele Intervalle. Die sind grausig für den Körper, so an der Kotzgrenze. Ich habe damals sehr viel mit Musik trainiert, die sich bei 150, 160 Puls gut anhört, aber nicht nervt. Wie eben Robbie Williams mit Hot Fudge.

 „Einfach mit dem Rad frei sein, mit den Kollegen herumdüsen und keiner weiß, wo man umgeht, das fehlt und damit fehlt den Kindern diese wesentliche Selbstverständlichkeit: Ich nehme jetzt mein Rad und fahre einfach los.“

Anderes Thema. Du bist Mutter von zwei Kindern. Wie können wir das Rad fahren im Straßenverkehr verbessern?

Da müsste sehr viel passieren. In meiner Kindheit sind wir einfach durch den Ort geflitzt und ins Schwimmbad gefahren. Dass das gefährlich wäre, war nie ein Thema. Es hat auch niemand ein Handy dabei gehabt. Niemand hat gewusst, wo wir sind. Irgendwann am Abend sind wir dann dreckig und hungrig wieder heimgekommen. Heute ist das anders. Die Eltern lassen die Kinder nicht mehr aus dem Blick, was ich verstehe, wie es auf der Straße zugeht. Die große Gefahr ist dann, dass Kinder weniger bis gar nicht Rad fahren. Und das ist nicht gut, weil Rad fahren ist wie Schwimmen, eine Grundbewegung. Kinder müssen schwimmen können, Kinder müssen Rad fahren können. Wir können darüber diskutieren, ob Kinder Skifahren können müssen oder eine Ballsportart. Weiters fehlen einfach die flächendeckenden Möglichkeiten, dort, wo man lebt, mit dem Rad durch den Ort, zur Schule, zum Fußballplatz, zum Tennisplatz oder zu den Freunden zu fahren. Das ist nicht möglich, so wild wie es auf den Straßen zugeht, der viele Schwerverkehr, der viele Individualverkehr. Ich erlebe in meinem Freundeskreis, dass die Kinder nicht mehr mit dem Rad herumtollen, aber die Eltern mit ihnen zu Bikeparks fahren. Das ist auch gut. Nur das Entweder–Oder stört mich. Denn einfach mit dem Rad frei sein, mit den Kollegen herumdüsen und keiner weiß, wo man umgeht, das fehlt und damit fehlt den Kindern diese wesentliche Selbstverständlichkeit: Ich nehme jetzt mein Rad und fahre einfach los.

„Der Mensch hat Vorrang und nicht das Auto.“

Was schlägst du vor?

30er Zonen, Begegnungszonen, Autos raus, Tempo runter, Handys weg. Und wir benötigen eine radikale Haltungsänderung: Der Mensch hat Vorrang und nicht das Auto.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Dieses Interview ist eine gekürzte Fassung der Episode No. 3 unseres Podcasts „Ride with passion“ mit Andrea Koschier.

 

In unserem Ride with passion Podcast geben unsere Gäste auch musikalisch den Ton an. Andrea Koschier hatte für das Interview diese Titel im Gepäck:

 

Die erwähnten Personen im Podcast:

Marianne Vos, NL, 34

  • zweifache Olympiasiegerin, zwölffache Weltmeisterin
  • erfolgreich auf der Straße und im Cyclocross
  • Mitglied der Hall of Fame des europäischen Radsportverbandes

 

Mario Cipollini, ITA, 54

  • Straßenradweltmeister 2002,
  • 189 Siege, davon 57 bei Grand Tours
  • einer der besten Sprinter aller Zeiten

 

Marta Bastianelli, ITA, 34

  • Straßenradweltmeisterin 2007
  • Straßeneuropameisterin 2018
  • zahleiche Siege auf der Straße