„Ich liebe laute und gitarrenlastige Musik“

David Binnig (38) ist Chefredakteur des deutschen Rad-Magazins „Rennrad“. Er war aktiver Radsportler, fuhr in seinen besten Jahren jährlich bis zu 60 Rennen auf der ganzen Welt, feierte Siege bei Rundfahrten, in der deutschen Bundesliga und bei Weltcuprennen, ehe er aus gesundheitlichen Gründen seine Radkarriere jäh beenden musste. Binnig absolvierte ein Studium der Sportwissenschaften und Germanistik. Es folgte ein Master in Journalismus, eine ebenfalls erfolgreiche Ausbildung an der renommierten deutschen Journalistenschule in München und ein erster spannender Job bei der Wochenzeitschrift „Die Zeit“.

Thomas Pupp: Lieber David, du warst selbst aktiver Radsportler und bist seit vielen Jahren intensiver Beobachter des Radsports. Was hat sich für dich in den letzten 15 Jahren verändert?

David Binnig: Die Frage ist sehr breit, ich glaube, darüber könnte man einige Bücher schreiben. Ich sehe vor allem zwei parallele Entwicklungen. Zum einen der Rennsport, der Lizenzsport, der schrumpft ziemlich. Das sieht man an den Starterfeldern, das sieht man an den Zahlen von Lizenznehmern, das sieht man an der Zahl der Straßenrennen und an der Zahl der Rundfahrten. Man muss ja nur einmal vergleichen, wie viele Rundfahrten es denn noch in Deutschland gibt. Also von Bayern-Rundfahrt, Sachsen-Tour, Regio-Tour, was es da alles gab, Thüringen-Rundfahrt der U23, da ist ja quasi fast nichts mehr übrig, was natürlich extrem schade ist.

„Es gibt eine immer größere Konkurrenz um die weniger werdende Freizeit der Jugendlichen“

Aber auf der anderen Seite fahren immer größere Teile der Bevölkerung selber Rad. Das war früher einmal ganz anders. Früher gab es immer diesen kurzen Jan-Ullrich-Boom, so ab 1996/97, der war aber eher medial vermittelt und das ist heute etwas ganz Anderes, weil heute fahren die Leute wirklich selbst. Heute sind die Leute Sportler und nicht mehr passive Konsumenten.

Worauf führst du den Rückgang des Lizenzradsports zurück?

Das ist eine ganz schwierige Frage. Ich habe dazu auch schon vor zwei, drei Jahren einmal einen größeren Leitartikel geschrieben. Damals waren es schon weniger als 500 Junioren in ganz Deutschland, also deutlich weniger als früher, wo Starterfelder von 200 Fahrern normal waren. Es war damals für viele wirklich schwierig, in den Landeskader hineinzukommen, heute ist das wohl anders. Das hat ganz viele verschiedene Gründe. Zum einen gibt es natürlich eine immer größere Konkurrenz um die weniger werdende Freizeit der Jugendlichen. Stichwort Ganztagesschule, die Zahl der Ganztagesschüler nimmt zu, das heißt, die Freizeit nimmt ab.

 „Ein riesiger Boom in den letzten Jahren sind Frauen“

Dann gibt es natürlich auch Zahlen zum Faktor Bewegungsmangel. Dazu gehören auch die digitalen Angebote, weshalb viele junge Menschen viele Stunden vor Bildschirmen verbringen. Auch wenn ich mein Studium von damals vergleiche, jetzt gibt es Bachelorstudien, man muss schnell fertig werden und alles ist schön verschult. Damals hatte man an der UNI viel größere Freiheiten, man ist teilweise viel tiefer eingestiegen in die Materie, aber man konnte sich das Studium auch viel eher einteilen und aussuchen. Ich glaube, der Druck wächst einfach auf die jungen Leute und eben auch die Konkurrenz von anderen Angeboten. Aus politischer Sicht hat das wahrscheinlich den Vorteil, dass die Leute früher zu arbeiten beginnen.

 „Noch gewichtiger ist natürlich der Trend der Gravelbikes“

Andererseits boomen die Hobbyszene und der Marathonbereich. Männer ab 40 kaufen sich ein Rennrad und starten in der dritten Pubertät eine Rennradkarriere. Ist das der Bereich, der nach deiner Beobachtung stark zunimmt, oder ist es mehr?

„Mittlerweile weiß man, dass ein Rennrad auch komfortabel sein kann“

Ja, du sagst es jetzt ein bisschen überspitzt, die berühmten MAMILS, Middle-Age-Men-In-Lycra. Aber das ist ein bisschen vereinfacht. Ein riesiger Boom in den letzten Jahren sind Frauen und auch jede Altersgruppe. Gerade auch weil die Einstiegshürde in diesen Sport total abgesenkt wurde und man mittlerweile weiß, dass ein Rennrad auch komfortabel sein kann. Man muss nicht wahnsinnig gestresst und aerodynamisch darauf sitzen und es muss nicht alles unfassbar hart und ungefedert sein, sondern man kann auch auf einem Endurance-Modell wirklich noch über Stunden hinweg komfortabel sitzen. Noch gewichtiger ist natürlich der Trend der Gravelbikes, weil es für viele Leute und für neue Zielgruppen, die vorher nichts mit sportlichem Fahrradfahren am Hut hatten, der Beginn des sportlichen Fahrradfahrens ist. Also mit einem Fahrrad mit einem gebogenen Lenker. Und es ein Rad für nahezu alle Bereiche ist. Man kann sich quasi ein Mountainbike Hardtail, ein Stadtrad und ein Rennrad sparen, weil das Gravelbike einfach überall abgeht, sowohl auf Schotter, auf leichten Geländestrecken und auf Asphalt. Und es passt einfach auch gut in die Zeit und zu den gesellschaftlichen Trends. Man will in die Natur und eine kleine Reise mit Taschen am Rennrad oder Gravelbike unternehmen und von der Haustüre aus losfahren, fertig.

Gravel ist also keine kurzfristige Modeerscheinung oder ein Marketinggag, sondern wirklich etwas das gekommen ist, um länger zu bleiben.

Ja, absolut. Ich habe ganz am Anfang, als so die ersten Pressemitteilungen zu Gravel kamen, auch genau so etwas kurz im Kopf gehabt. Wer braucht das denn, es gibt doch Querfeldeinräder. Aber das hat nicht lange gedauert, bis sich dieser Eindruck dann revidiert hat bei mir, nachdem ich nämlich das erste Mal drei, vier Stunden gefahren bin mit so einem Ding. Man sitzt völlig anders drauf. Da ist wieder dieses Thema Komfort, weil du sitzt ja viel weniger gestreckt. Ein Cyclocrosser hat eine aggressive Geometrie. Das ist zum Rennenfahren und nicht um vier Stunden locker irgendwie über Schotterwege zu cruisen. Dann ist auch das Thema Reifenbreite unfassbar wichtig. Also ich fahre mit meinem Gravelbike mittlerweile über, ich sage einmal, gar nicht so unheftige Mountainbike-Singletrails, weil man halt dank Tubeless und dank breiter Reifen einen extremen Komfort hat.

Da bin ich ganz bei dir. Diese Eintrittshürde ist geringer geworden und Gravel-Räder beschleunigen diesen Prozess. Auf der anderen Seite kosten top ausgestattete Rennräder mehr als ein Kleinwagen. Welche Reaktionen bekommt ihr darauf von euren LeserInnen?

„Es gibt einen Markt für einige Leute, die es sich leisten können und bereit sind, viel Geld auszugeben“

Großes, wichtiges Thema. Ja, wirklich. Die Reaktionen sind gespalten. Teilweise werden wir dann gefragt, warum testet ihr das denn. Aber warum testet Auto Motor und Sport einen Ferrari? Da könnte man ja auch sagen, ihr dürft nur Polos oder was auch immer testen. Diese enorme Preisinflation sehen wir enorm kritisch – ich habe diese Entwicklung in zwei der letzten Magazin-Ausgaben kritisiert und wir versuchen möglichst oft, günstige Modelle zu testen. Ich meine, letzten Endes ist es Kapitalismus. Also wenn niemand die Räder kaufen würde, würden es die Hersteller nicht anbieten. Es gibt einen Markt für einige Leute, die es sich leisten können und bereit sind, viel Geld auszugeben. Natürlich hat es nicht nur mit Technik zu tun, sondern auch mit Status, das ist ganz logisch. Das betrifft ja schon die Radtrikots. Also warum zahlt jemand 300 Euro für ein Radtrikot? Weil wahrscheinlich eine gewisse Marke drauf ist. Natürlich muss man es aber auch aus Radhersteller-Sicht sehen. Der Aufwand, solch einen Carbon-Rahmen zu entwickeln, allein die Ursprungsform herzustellen, ist natürlich gewaltig. Da sind große Investitionen dahinter. Die Stückzahlen sind natürlich nicht groß, das heißt, der Preis muss höher sein.

Eine Besonderheit unseres Podasts ist die Musik unserer Gäste. Deine Auswahl ist hochspannend. Womit dürfen wir starten, David?

Mit einer Band aus meiner Jugend. Ich habe absichtlich keine Mainstream-Sachen gewählt. Also, ich höre die natürlich schon auch, aber ich wollte jetzt extra keine auswählen, die eh jeder schon kennt. Deswegen habe ich mich für eine Punkband entschieden, weil das einfach aus meiner Jugend ist. Ich war auf vielen Konzerten und auf vielen Festivals und habe sehr gute Erinnerungen. Die Band heißt Millencolin, kommt aus Schweden und der Song heißt „Bullion“. Da geht es für mich einfach um Energie und gute Laune.

(„Bullion“ von Millencolin) 

Ich möchte noch einmal auf meine Einstiegsfrage zurückkommen, was sich verändert hat im Radsport. Auf der einen Seite die drastische Abnahme der Lizenzen im Nachwuchsbereich, auf der anderen Seite gibt es diese extreme Verjüngung im Spitzenradsport. 20-, 21Jährige gewinnen die Tour de France und fahren auf höchstem Niveau. Wie sind dazu deine Beobachtungen und deine Meinung zu dieser Entwicklung?

Das ist für mich eine der interessantesten Entwicklungen in den letzten 20 Jahren überhaupt. Ich habe dazu recherchiert, weil mich das Thema aus vielerlei Hinsicht interessiert und beschäftigt. Nehmen wir den Spanier Juan Ayuso. 19 Jahre alt. Er hat 2021 den „Baby Giro“ gewonnen, mit 18 Jahren, gegen 21-, 22Jährige. Vorher hat er schon einen 5-Jahres-Vertrag bei Team UAE unterschrieben. Im Jahr zuvor war es ein Tom Pidcock und wiederum davor war es ein Remco Evenepoel. 2020 wechselte Carlos Rodriguez direkt von den Junioren zum Team Ineos – obwohl er kaum internationale Top-Ergebnisse hatte. Da könnte man vermuten, dass er anhand seiner Leistungsdaten ausgewählt wurde. obwohl er eigentlich gar nicht so die wahnsinnigen internationalen Ergebnisse gehabt hat, außer dass er oftmals spanischer Meister geworden ist. Im Jahr zuvor war es ein Tom Pidcock und wiederum davor war es ein Remco Evenepoel. 

„Die Jungs sind dann 18, maximal ihr 14er Ritzel gewöhnt und ein Jahr später fahren sie dann mit den Größten der Welt um die Wette“

Statistisch gesehen ist das ja alles normal, wenn ab und an so ein „Jahrhunderttalent“ auftaucht, so ein Remco oder so ein Pogacar oder so ein Bernal. Aber aktuell häuft sich das halt, also widerspricht das eigentlich den Statistiken. Und es sind ja nicht nur diese Wahnsinnstalente, die da die Rennen vorne gewinnen, da gibt es ja noch viel mehr so ganz junge Fahrer. Da kann man 100 Namen aufzählen, von Marc Hirschi über Bagioli und und und. Plus dem Phänomen, dass immer mehr wirklich ganz junge Fahrer die komplette U23-Klasse überspringen. Die Jungs sind dann 18, maximal ihr 14er Ritzel gewöhnt und ein Jahr später fahren sie dann mit den Größten der Welt um die Wette. Das ist schon Wahnsinn. Eine naheliegende Antwort wäre natürlich, dass diese jungen Fahrer schon von klein auf mit Powermeter fahren, viele Leistungstests und Bikefittings pro Jahr machen, genauer in ihrem Leistungsbereich trainieren und sich auch besser ernähren. Aber wissenschaftlich ist das nicht wirklich gesichert und es würde auch implizieren, dass die früheren Generationen einen totalen Quatsch zusammentrainiert haben.

Vielleicht ist es auch eine Mentalitätssache, weil die Teams weniger hierarchisch sind. Wenn früher ein 21jähriger Neuprofi in ein großes Team kam, dann war wahrscheinlich klar, dass er die nächsten drei Jahre mal die Flaschen für seinen Kapitän holt. Fände ich aber auch zu einfach als Erklärung. Es gibt wenige Studien dazu.

„Entscheidend für den Aufstieg in die WorldTour sind die Anzahl, Länge und Härte der Rennen“

Ich habe lange wirklich gesucht, um etwas zu finden. Es gibt eine gute Studie aus Norwegen, die ein bisschen etwas erklären könnte. Da wurden relativ viele Nachwuchsfahrer durch ihre Junioren- und U23-Zeit begleitet. Entscheidend für den Aufstieg in die WorldTour sind die Anzahl, Länge und Härte der Rennen, die diese Fahrer in ihrer Nachwuchszeit gefahren sind. Also, je länger und je härter, umso besser. Das erscheint mir relativ logisch zu sein. Da ist es dann natürlich noch einmal doppelt schade, wenn hierzulande auch die Zahl der Straßenrennen und gerade der harten, langen Rennen, massiv abnimmt.

Du hast da vor einigen Jahren einen hoch interessanten Artikel zum Thema „Talent im Spitzensport“ in der ZEIT geschrieben. Damals ist es hauptsächlich um um Mittelstrecken- und Langstreckenläufer gegangen, aber auch aus welchen Gegenden unserer Welt die großen Sprint-Talente kommen. Norwegen ist ja im Radnachwuchs sehr stark und diese Studie könnte darauf ein Bezug nehmen, oder?

Ja, absolut. Vor allem Dänemark und Norwegen räumen bei den Junioren und in der U23 Klasse richtig viel ab, in Relation zur Bevölkerungszahl ist das schon krass. Auch Australien und Großbritannien sind schon länger positive Beispiele. In Großbritannien ging alles mit Blick auf die Olympischen Spiele 2012 los. Wenn man sich anschaut, welche Nation wie viele Profisportler entwickelt oder Leute in den Profisport bringt, dann sind die traditionellen Radsportnationen wie Italien, Belgien, Frankreich oder Spanien vorne. Das hat garantiert sehr viel mit Sozialisation zu tun oder wie breit ist denn die Talent-Pyramide aufgestellt ist. Wenn man es auf die Bevölkerung herunterbricht, dann sind gerade die Niederlande und Australien ziemlich weit vorne. Aber ganz vorne sind die Flamen. Das sind 5 Millionen Leute, die haben aber 20 Straßenweltmeister. Wenn man das in Relation zu Deutschland oder Österreich setzt, dann wird es interessant.

Was könnte die Öffentlichkeit oder die Politik tun, um derartige Prozesse zu verbessern?

Best Practice. Man muss schauen, wo denn was gut funktioniert und wo positive Entwicklungen stattgefunden haben. Zum Beispiel in Dänemark, in Norwegen, in Großbritannien und in Australien. Was machen die Australier und die Briten anders, seitdem es berghoch gegangen ist? Die haben einfach den politischen Willen dazu. Das ist schon einmal das Erste und das Zweite lautet Investition. Dann kann man auch Programme umsetzen. Die Briten und die Australier machen das ja beide relativ ähnlich, die haben so einen zentralistischen Ansatz. Die habe ein großes Sports- oder Cyclingcenter, da ziehen sie die großen Talente, mit denen sie Leistungstests und Lehrgänge gemacht haben, zusammen und bilden sie dort aus. Und dass das funktioniert, lässt sich ja objektiv messen an den Erfolgen und wie viele Leute Profis werden. Das wäre ein Weg.

Wie siehst du die Entwicklungen in Südamerika? Speziell in Kolumbien und Ecuador? Erkennst du dort eine ähnliche Entwicklung, wie sie vor Jahren im Fußball begonnen hat? Also ein Scoutingsystem, um die künftigen Rundfahrtssieger zu entdecken?

„Heute kann man auch ohne große Ergebnisse große Verträge bekommen“

Schwierig zu beantworten. Gerade Kolumbien hat ja schon einmal einen Radsportboom hinter sich, der auch nie ganz abgeflaut ist. Die hatten dort schon früher Top-Fahrer bei der Tour. Dass da natürlich massiv Talent vorhanden ist, ist klar. Aber ich glaube jetzt nicht, dass die großen Teams so wahnsinnig viele Scouts dort am Start haben. Wo kommen denn ein Egan Bernal oder auch ein Ivan Sosa her? Das ist quasi eine Connection, nämlich über Gianni Savio in Italien, der dorthin sehr gute Kontakte hat. Ich glaube einfach, dass die Suche nach Talenten heutzutage viel früher ansetzt und auch ein bisschen anders abläuft. Früher ging es einfach nur um Ergebnisse, Ergebnisse und Ergebnisse und vielleicht noch ein um bisschen Mentalität, die man vorher abklopft, bevor man jemanden einen Vertrag gibt. Heute ist es, glaube ich, ein bisschen anders. Heute kann man auch ohne große Ergebnisse große Verträge bekommen, indem man wahnsinnig gute Leistungswerte in den Leistungstests aufzeigt. Und da gibt es ja einige Beispiele. Die prominentesten sind jetzt natürlich der Anton Palzer, ein Skibergsteiger und Ben Zwiehoff, ein Mountainbikefahrer. Beide haben quasi keinerlei Straßenergebnisse, zumindest auf hohem Nivau aufzuweisen, und die kommem dann mit 27 und 28 Jahren direkt in die WorldTour. Ich gehe einmal davon aus, dass das mit ihren V2max Werten und mit Ihren Watt pro Kilogramm zu tun hat. Ineos hat ja auch, vorletztes Jahr, einen Junior verpflichtet, ihn direkt die U23 Kategorie überspringen lassen und dann direkt in der WorldTour eingesetzt. Der hatte auch keine großen internationalen Ergebnisse international. Dann denkt man sich, okay, warum geben die dem einen Zwei- oder Vierjahresvertrag. Und dann hat man gesehen, wie er fährt, der Kollege Carlos Rodriguez. Weltklasse!

David, wir kommen zum zweiten Musiktitel.

„Es war das beste Konzert meines Lebens“

Er ist laut und natürlich gitarrenlastig, weil das nun mal mein Geschmack ist. Ich habe unfassbar gute Erinnerungen, wenn ich diesen Song höre. Ich habe die Band live gesehen und es war das beste Konzert meines Lebens. Der Song ist auch fast schon philosophisch, wenn man hinhört, auf den Text, auch wenn es das erste Mal nicht so gelingen mag. Das Thema ist schon ein bisschen in der Nähe von George Orwell, also es ist wahnsinnig tiefgehend. Es gibt fast keinen Gesellschaftsbereich, der in diesem Text nicht behandelt oder nicht kritisiert wird, von Politik, über Medien und dem Krieg. Der Song heißt „Testify“ von Rage Against the Machine.

(„Testify“ von Rage Against the Machine)

David, nicht nur die leidenschaftliche und mit all diesen wichtigen Themen uns befeuernde Stimme von Zack de la Rocha berührt uns, sondern auch deine Musikauswahl, eben weil sie sehr gesellschaftskritisch und hochpolitisch ist. Bleiben wir noch thematisch bei Rage Against the Machine. Corona hat auch die großen Ungleichheiten ausgebreitet: Die Superreichen wurden noch superreicher, die südliche Hemisphäre hat kaum Impfstoffe bekommen, die Börsen haben eine unglaubliche Hausse erlebt und auch im Spitzensport sieht man diese Entwicklung: Im Top-Fußball ist der Ball weiterhin am grünen Rasen gerollt und auch der Spitzenradsport hat kaum Pausen machen müssen. U23-Teams haben hingegen kaum Rennen gehabt und vom jungen Nachwuchs möchte ich gar nicht reden. Das macht einen doch brutal wütend und man möchte schreien wie Zack de la Rocha, oder?

„Es geht ja darum, ein bisschen über den Tellerrand zu schauen“

Also es gibt so viele Leute, die ihre Jobs verloren haben. Hingegen waren die Bereiche Radsport oder die Radindustrie fast schon Profiteure. Ich fühle mich total privilegiert im Vergleich zu anderen, weil ich hatte weder Kurzarbeit, wie keiner von uns, und wir hatten extrem viel zu tun. Man muss immer relativieren. Also im Vergleich zu ganz vielen hatten wir gar keine Probleme. Was natürlich massiv ist und was auch schon ein Leitartikelthema bei uns war, ist das Thema, welche langfristigen Auswirkungen das auf Kinder und Jugendliche hat, weil die sind gar nicht absehbar. Es gibt dazu ein paar Studien und Umfragen, deren Ergebnisse verheerend sind, was die psychische Gesundheit betrifft, auch was das Bewegungsverhalten und das Ernährungsverhalten angeht. Ich habe zwei Leitartikel dazu geschrieben, die sind voller Zahlen, wie das durchschnittliche Körpergewicht im ersten und im zweiten Lockdown zugenommen hat, die physischen Aktivitäten abgenommen haben und sich die Zeit als passiver Konsument vor Bildschirmen erhöht hat. Was das dann langfristig bedeutet für die Gesundheit der Menschen ist einfach nicht absehbar. Man könnte in dem Kontext jetzt über viele Themen sprechen, wie beispielsweise über die EZB-Schuldenpolitik. Das sind Riesenthemen, die ich manchmal auch anreiße in den Meinungsartikeln bei uns im Heft. Es geht ja darum, ein bisschen über den Tellerrand zu schauen.

Dieses Über-den-Tellerrand-Hinausschauen macht ja dein Magazin noch lesenswerter und deine Leitartikel empfinde ich unheimlich spannend. Wie fallen die Reaktionen deiner Leserschaft aus?

Ganz selten bekommt man ein Leser-Feedback a la „Schuster bleib bei deinen Leisten“. Dann sage ich, ja gut, aber erstens kenne ich mich damit aus, zweitens gehört das irgendwie zum Kontext und drittens, wenn ich 12 Leitartikel pro Jahr darüber schreiben sollte, warum sich Radfahrer nicht mehr gegenseitig grüßen oder warum Scheibenbremsen genauso gut, besser oder schlechter sind als Felgenbremsen, dann würde es ein bisschen langweilig werden. Also die Reaktionen sind zu 95% positiv. Ich fühle auch einen gewissen Druck, das weiter so zu machen. Weil viele Leute aus der Radindustrie oder Freunde von mir, also Leute, die ich wirklich gut kenne, erwarten sich das auch so. Die sagen dann, David, aber diesmal war dein Leitartikel ein bisschen unpolitisch oder ein bisschen zu kurz. Da denke ich dann, ich kann ja nicht jedes Mal so ein Riesenfass aufmachen. Das hat auch damit zu tun, dass diese Artikel für mich mit Abstand am meisten Arbeit machen.

Das denke ich mir.

Sie erfordern die größte Recherche. Aber ich mache das, weil es mir Spaß macht, weil es mich interessiert und aus Idealismus. Inzwischen ist es auch für viele ein USP des Magazins geworden.

Ich sehe das auch so, wirklich ein Alleinstellungsmerkmal unter den vielen Radmagazinen. Diese Themenbereiche hängen aber auch sehr stark mit deinem Germanistikstudium und deiner Ausbildung als Journalist zusammen, außerdem zählst du Wirtschaft, Wissenschaft, Literatur, Politik und Geschichte zu deinen Hobbys. Wie pflegt man ein derartig großes Interessensgebiet? Oder verdichtet sich bei dir das dann alles in deinen zu Papier gebrachten Leitartikeln?

„Wir haben große schwarze Listen mit verbotenen Wörtern und Phrasen“

Das geht weiter. Also für mich ist der wichtigste Faktor Lesen. Ich lese sehr schnell und ich lese sehr viel, seit ich lesen kann. Da muss ich auch meinen Eltern definitiv danken, dass sie mich so sozialisiert haben. Das kommt ja nicht von alleine. Ein kleines Kind fängt jetzt nicht an, früh den Spiegel, auch wenn er da liegt, oder irgendwelche Bücher zu lesen, sondern man wird ja dabei unterstützt und es wird einem schmackhaft gemacht. Lesen ist auch eine Grundvoraussetzung, meinen jetzigen Job gut zu machen und ein Sprachgefühl zu entwickeln. Und ein guter Schreiber wird man auch nur dann, wenn man gewisse Aversionen gegen Phrasen und hässliche Sprache hat. Wir haben große schwarze Listen mit verbotenen Wörtern und Phrasen. Es „herrschte reges Treiben“, solche Sachen oder „Jubel kennt keine Grenzen“. Diese ganzen hohlen Versatzstücke, die ein Journalist ohne Nachzudenken irgendwo hinschmiert, weil es halt schnell geht. Aber da ist halt dann keine Liebe im Text und viele nehmen das auch leider so hin. Das sind so Sachen, die würde man niemals in einer gesprochenen Sprache benutzen, Schreib so, wie du redest. Teilweise kannst du natürlich auch scharfe Sätze machen, wenn es schön ist oder wenn es gerade passt. Aber bitte nicht diese hässlichen Phrasen benutzen.

 „Die Radwanderkarten hatten übers letzte Jahr einen Zuwachs von 50 %, was echt ein Wahnsinn ist“

Das Lesen führt uns jetzt auch zur Situation in deinem Verlag und der gesamten Branche im Allgemeinen. Vor Jahren gab es die apokalyptische Prophezeihung, dass das Internet Bücher, Magazine und Tageszeitungen verschwinden lassen nd es keine Buchhandlungen mehr geben würde. Wie schaut denn die Situation bei euch im Verlag aus?

Auch wenn die Apokalypse noch nicht eingetreten ist, die Entwicklung geht leider dorthin. Amazon tötet logischerweise nach und nach die Buchhandlungen, Digital tötet Print, und auch Video tötet Print, langfristig. Das ist so das große Bild. Wir haben das große Glück, dass wir quasi gegen den Strom und gegen den Markttrend schwimmen, weil der Markttrend zeigt, dass die Verkaufszahlen bei den Printprodukten abnehmen. Aber die Printauflage der „Rennrad“ wächst seit Jahren zweistellig, wofür ich extrem dankbar bin. Also allen Menschen, die jemals unser Heft gekauft haben, vielen, vielen Dank. Das sichert unsere Jobs. Wobei natürlich auch bei uns im Verlag der Printanteil innerhalb des Medienmixes tendenziell abnimmt, weil einfach der digitale Bereich stärker wächst. Andererseits und völlig gegen den Trend und die Digitalisierung wächst unsere Bücher- und Kartenabteilung, die auch zum Verlag gehört, massiv. Die Radwanderkarten hatten übers letzte Jahr einen Zuwachs von 50 %, was echt ein Wahnsinn ist. Das meiste wird über digitale Kanäle verkauft. Und ich glaube, wir profitieren auch massiv von dem Trend zum Zuhauseurlaub, um dort die Natur zu entdecken.

Das ist total spannend.

Wir sehen Korrelationen zwischen den Postleitzahlen der Käufer und den gekauften Karten. Das heißt, die Leute entdecken ihre Heimat. Das ist auch für uns bei „Rennrad“ schon seit längerem ein ganz, ganz großes Thema. Fast jeder kann irgendetwas finden bei sich in der Nähe, Hauptsache nah. Es gibt so viele schöne Gebiete, da muss man jetzt nicht nach Mallorca fliegen, um schön Rad zu fahren.

Apropos Nähe. Du hast mal eine Auszeit genommen und eine einjährige Weltreise unternommen. Wohin ist es denn da gegangen?

Also ich bin einmal rumgeflogen, nach Osten. Angefangen hat es in Taiwan, dann kamen drei Monate Südostasien, Kambodscha, Thailand, Malaysia, Laos, Vietnam, dann kam Australien, dann Neuseeland und dann ein bisschen Südamerika, aber nur Brasilien und Argentinien. Ja, ich habe da extrem viel erlebt, es war eine ganz, ganz intensive Zeit. Ich war da sehr Low Budget unterwegs, also habe immer das Billigste genommen und immer versucht, bloß nichts Touristisches zu machen, was mittlerweile, auch schon wieder ein bisschen Maistream ist für viele. Ich habe Tagebuch geführt, um daraus vielleicht ein Buch zu machen. Aber im Moment ist es nicht absehbar, dass das jemals ein Ende findet. Aber es prägt einen.

Also less is more, weniger ist mehr. Da kommen wir ja zu deinem letzten Titel.

Genau, das passt jetzt natürlich wahnsinnig gut. Wir hören „Society“ von Eddy Vedder.

Ich habe jetzt fast heulen müssen, bitte. Der Soundtrack zu „Into the Wild“, der wunderbaren Romanverfilmung von Jan Krakauer. Gut, niemand anderer als Sean Penn hat Regie geführt, auch die schauspielerischen Leistungen waren großartig.

Ja, da sind wir uns ja einig. Ich habe mehrmals den Film gesehen und mehrmals das Buch gelesen. Ich fühle mich dabei oft an Erlebnisse im Laufe meiner Weltreise erinnert. Ich war auch danach mehrere Wochen unterwegs in Südostasien und Neuseeland und bin dort viel gewandert. Man fühlt sich da an frühere Zeiten zurückerinnert und ist sehr glücklich über das Privileg, all dies erleben zu dürfen. Die Themen und Textzeilen des Liedes sind wunderbar und absolut nachdenkenswert und sie passen so wahnsinnig gut zu diesem Film.

Danke David, weiterhin viel Erfolg mit deinem Magazin und bitte bleib der Positionierung, den Longreads und deinen politischen Leitartikeln treu, sie machen dieses Magazin sehr lesenswert.

Dieses Interview ist eine gekürzte Fassung der Episode No. 4 unseres Podcasts „Ride with passion“ mit David Binnig.

 

Podcast Playlist

Auch Musik gibt im Ride with passion Podcast den Ton an. Die Gäste spielen ihre drei Lieblingslieder. David Binnig hat für das Interview diese Titel im Gepäck:

Millencolin – Bullion

Rage Against The Machine – Testify

Eddy Vedder – Society

 

Anton Palzer, D, 28

  • Weltklasse im Skibergsteigen und im Berglauf
  • seit April 2021 Radprofi im Team BORA-hansgrohe

Ben Zwiehoff, D, 27

  • Europameister MTB-Staffel
  • seit 2021 Radprofi im Team BORA-hansgrohe

Carlos Rodrguez, ESP, 21

  • Spanischer Junioren-Meister im EZF
  • UEC Bronze EZF Junioren
  • seit 2020 Radprofi im Team Ineos
  • Etappensieg sowie Berg- und Nachwuchswertung bei der Tour de l`Avenir 2021